88 Tage Neonatologie

Es ist Ostermontag 2022. 18:14 Uhr. Linus kommt per Kaiserschnitt nach 25+1 Schwangerschaftswochen auf die Welt. 830 Gramm leicht. 35 cm klein. Kaum größer als ein herkömmliches Blatt Papier. 

Es folgen 88 Tage auf der Station der Neonatologie des Klinikums Westbrandenburg in Potsdam – einem speziellen Bereich für Früh- und kranke Neugeborene. Es werden fast 3 lange Monate voller Hoffen und Bangen. Mit Fort- und Rückschritten. Mit Liebe und Fürsorge. Und mit Zuversicht zum Zeitpunkt des errechneten Entbindungstermins ein gesundes Baby mit nach Hause nehmen zu können.

Die Schwangerschaft – eine Überraschung

Es ist Weihnachten 2021 als Eileen – Mama von zwei Söhnen (5 und 3 Jahre alt) erfährt, dass sie schwanger ist. Die Freude ist riesig, auch wenn die Schwangerschaft eine echte Überraschung ist. Denn Eileen verhütet eigentlich mit einer Kupferspirale. 

„Ich wusste sofort, dass ich schwanger bin. Wenn man bereits zwei Kinder hat, spürt man das. Auch wenn er eine kleine Überraschung war, haben wir uns unendlich gefreut. Gepaart mit Sorgen, natürlich. Meine Frauenärztin war sehr entspannt mit der Situation, da sie schon zwei Schwangere begleitet hatte, die mit eingesetzter Spirale schwanger geworden sind. Und da ist alles gut gegangen.“

Der Embryo hat sich ganz in der Nähe der Spirale in die Gebärmutter eingenistet, deshalb kann sie nicht entfernt werden.

„Die Chance war 50 zu 50, dass er bleibt oder dass er abgeht. Mein Inneres hat immer gesagt, dass er bleiben wird, definitiv. Und dass er auch gesund das Licht der Welt erblicken wird.“

Bis zur 24. SSW läuft alles normal

Die Schwangerschaft verläuft normal. Der Fetus entwickelt sich zeitgerecht. Die 24. Schwangerschaftswoche verbringt die Familie im Urlaub. Noch einmal zu viert Urlaub machen, bevor der kleine Bruder zur Welt kommt. Doch während des Urlaubs spürt Eileen Übungswehen. Zuhause zurück merkt Eileen, dass sie kleinere Mengen Fruchtwasser verliert.

„Ich hatte mich vorher informiert, in welches Krankenhaus ich im Falle eines Falles gehen würde, weil ich ja das Risiko kannte. Deswegen bin ich Karfreitag direkt hierher. Ich bin allein hergefahren, weil ich dachte, dass schon nichts sein würde – bestimmt ein Fehlalarm.“

Schnell stellt die diensthabende Ärztin der Frauenklinik im Klinikum Ernst von Bergmann fest, dass die Fruchtblase gerissen ist. Es folgen viele Gespräche: mit dem Ärzteteam, dem Mann zu Hause, der Familie. Fest steht, Eileen muss in der Klinik bleiben. 

„Ich wurde über alles aufgeklärt, wirklich bis ins kleinste Detail. Ich war wie in Trance, hab versucht alles aufzusaugen. Die Kinderärzte sind gekommen, auch von der Neonatologie und haben uns erklärt, was auf uns zukommen kann. Auch über den Kaiserschnitt wurde ich aufgeklärt. Wir haben versucht, Linus so lange wie möglich im Bauch zu halten. Jeder Tag, den er im Bauch bleibt, zählt. Auch auf der Neonatologie wussten alle Bescheid, dass „eine kleine Woche“ kommen könnte und waren vorbereitet. Ich habe noch die Lungenreifespritze bekommen. Wow, die tat weh. Und das war, glaube ich, letztendlich auch mitunter unsere Rettung, dass unser kleiner Kämpfer so toll durch diese Zeit gekommen ist.“

Ostermontag setzen die Wehen ein. Ehemann Robert ist an Eileens Seite. Es ist 18:04 Uhr, als Eileen in den OP-Bereich des Kreißsaals kommt. Das Team steht schon bereit, um die nur knapp zwei Minuten dauernde Geburt durchzuführen. 

„Der Anästhesist hat mich noch mal direkt vor der OP beruhigt, hat mir gesagt, wie ich was spüre und was ich nicht spüre. Und dass ich wissen muss, dass Linus nicht schreien wird. Das war wichtig, denn ich hätte drauf gewartet. Dann ging es los und schon nach ein paar Minuten sagte er: „Eigentlich machen das die Ärzte, aber ich sage schon mal herzlichen Glückwunsch. Er hat mir sogar zugewunken“. Ich wusste somit – okay, er bewegt sich – jetzt wird alles gut. Und dass an der Tür direkt die Neonatologen warten und sich um ihn kümmern werden, gab mir ein großes Gefühl der Sicherheit."

Linus ist da

Linus ist da. 830 Gramm leicht, 35 Zentimeter klein. Nach 25+1 Schwangerschaftswochen.

„Wir durften zirka 1,5 Stunden nach der Geburt (so lange kann die Erstversorgung dauern) zu ihm. Ich wurde mit dem Bett auf die Neonatologie gefahren – mein Mann an meiner Seite. Linus war so klein, der Inkubator so groß, aber das habe ich als Mama nicht gesehen. Ich habe die Kabel nicht gesehen, ich habe den Tubus nicht gesehen, ich habe nichts gesehen. Ich habe nur gesehen, dass er da ist und wunderschön. Wir hatten sofort eine Bindung – die unsichtbare Nabelschnur – sie war da. So wie man das auch mit seinen reif geborenen Kindern kennt. Und dann begann die Achterbahnfahrt, die ich ohne meinen wunderbaren Ehemann, meine grandiose Familie und unsere unbezahlbaren Freunde nicht überstanden hätte.“ 

Linus wird nun rund um die Uhr vom Team der Neonatologie des Klinikums Westbrandenburg in Potsdam versorgt und behandelt – den Spezialist*innen für Früh- und Neugeborene, die intensivmedizinische Unterstützung benötigen.

„Wir wurden hier auf der Neonatologie wirklich total liebevoll aufgenommen. Man hat uns immer alles in Ruhe erklärt. Immer mit der Balance zwischen fachlicher Ernsthaftigkeit und Empathie. Es sind ja erstmal so viele Dinge, die auf einen einprasseln. Von Anfang an haben die Ärzte uns gesagt, dass Linus wirklich einen super Eindruck macht – ein Vorzeigefrühchen. Dafür, dass Linus in so einer kleinen Woche geboren ist, sind alle sehr zufrieden. Es kann sich jedoch immer schnell ändern, das müssen wir bedenken. Letztendlich waren es 88 Tage Berg- und Talfahrt.“

Damit die Eltern einen innigen Kontakt zu Ihrem Kind aufbauen können, binden die Fachpflegekräfte sie schrittweise in die Pflege ein. 

„Linus wurde mir gleich ab dem zweiten Tag auf die Brust gelegt. Das war ein ganz, ganz besonderer Moment. Wir wurden von Anfang an mit einbezogen: Ich durfte ihn wickeln, anfassen, streicheln, den Ärzten und Ärztinnen bei Untersuchungen sogar schon assistieren. Das tat so gut gebraucht zu werden. Wir wurden wunderbar angeleitet und unterstützt. Jedes Kabel, jeder Knopf wurde uns erklärt – keine Frage blieb unbeantwortet. Wir wurden als Eltern zu jeder Zeit ernst genommen.“

Die Tage sind kurz, die Wochen lang

Linus größtes Problem bereitet der Bauch. Er hat oft einen Blähbauch, weil der Darm noch sehr unreif ist. Er bekommt von Anfang an Muttermilch. Hätte Eileens Milch nicht gereicht, steht die hauseigene Frauenmilchbank zur Verfügung. Muttermilch ist das Beste für ein Neugeborenes und erst recht für Frühchen. Und dennoch: der Bauch drückt auf die Lunge, erschwert die Atmung – zusätzlich zur extremen Lungenunreife, die er aufgrund der Frühgeburt hat. Er kämpft immer wieder mit Bradykardien – einem verlangsamten Herzschlag. Wirkt müde, ist erschöpft, manchmal blass. Eine potentiell bedrohliche Situation für das Neugeborene. 

„Es gab auch Momente, da habe ich meinen Mann angerufen und gesagt, ich kann jetzt gerade nicht mehr, bitte übernimm Du. Ich weiß nicht mehr weiter.“

Das Ärzteteam von Linus berät intensiv, auch mit den Eltern, welche Behandlungsmöglichkeiten bestehen, um eine Operation zu vermeiden, die ihn zusätzlich belasten und schwächen würde. 

„Es ist einfach Wahnsinn – es gibt so viele Behandlungs- und Medikamentenmöglichkeiten, die durchgeführt werden können, gefühlt eine Million, die ihm helfen können. Da wurde hier wirklich bis zum Letzten alles ausgeschöpft – bevor eine Operation zur Debatte stand. Linus blieb eine Operation erspart. Dafür bin ich unendlich dankbar.“

Die Tage und Wochen vergehen. Mal ist Linus Zustand deutlich besser, mal wieder schlechter. Ein einziges auf und ab, zwei Schritte vor, ein Schritt zurück.

„Nach vier Wochen habe ich das erste Mal gesagt: Ich habe keine Kraft mehr her zu fahren. Davor habe ich mich gefreut täglich morgens um 7:00 Uhr hierher zu fahren, habe mich gefreut mein Baby zu sehen. War euphorisch. Die Tage sind so schnell vergangen. Das war Wahnsinn. Der Entbindungstag ist immer der Schlüssel – der Tag, auf den man hinarbeitet. Und der war so weit weg. Okay, noch sieben Wochen. Okay, noch sechs Wochen. Wie soll man das alles überstehen? Nach etwa 9 Wochen auf Station durfte und konnte ich dank der wunderbaren Schwestern Linus das erste Mal stillen. Das war ein magischer Moment und gab Kraft weiterzumachen.“

Linus darf nach Hause

Zwei Wochen vor dem errechneten Entbindungstermin, nach langen 88 Tagen, darf Linus endlich nach Hause. Er muss weiterhin Medikamente bekommen, unter anderem für eine regelmäßige Atmung. Ein Heimmonitor soll die Eltern zu Hause unterstützen, Linus Zustand besser beurteilen zu können.

„Das musste erst mal kurz sacken, weil wir gedacht haben, wir nehmen ein „gesundes“ Kind mit nach Hause und jetzt brauchte er doch irgendwie Unterstützung. Aber auch hier wurden wir ganz toll angeleitet, welche Medikamente er bekommt und wie er sie bekommt. Als wir das Krankenhaus verlassen konnten, sind alle Dämme gebrochen. Es war ein ganz rührender Abschied mit vielen Tränen – diesmal vor Freude und Dankbarkeit. Auch mit den Schwestern, die sich alle total gefreut haben. Man ist hier über die Zeit so zusammengewachsen. Man hat sich daran gewöhnt, die Probleme und Sorgen mit den Schwestern zu teilen, wenn man den ganzen Tag hier war. Während der gesamten Zeit wurden wir als Eltern psychologisch direkt in der Klinik betreut und hatten somit auch seelisch eine konstante Person, die uns geholfen hat, durch diese Zeit zu kommen. Neben wertvollen Tipps im Umgang mit dieser Ausnahmesituation, hatten wir die Möglichkeit in den Sitzungen loszulassen und unseren Emotionen ihren Lauf zu lassen.“

Ganzheitlich versorgt, auch nach der Entlassung

Die Betreuung von Früh- und kranken Neugeborenen endet nicht mit der Entlassung aus der Klinik. Ein ganzheitlicher Versorgungsansatz soll das Beste für Mutter, Kind und die gesamte Familie möglich machen.

„Wir haben allerhand Termine. Wir sind im Sozialpädiatrischen Zentrum Potsdam in Betreuung. Manche Frühchen müssen wöchentlich zum Augenarzt, auch nach der stationären Behandlung. Bei Linus sind bisher zum Glück keinerlei Augenprobleme aufgetreten. Wöchentlich bis zweiwöchentlich sind wir beim Kinderarzt, zusätzlich noch bei der Physiotherapie. Darüber hinaus die wöchentliche sozialmedizinische Nachsorge, die zu uns nach Hause kommt. Wir haben jetzt für Linus eine Pflegestufe beantragt und genehmigt bekommen, dank der Nachsorge. Wir hätten gar nicht die Idee gehabt."

„Linus ist nun fast 4 Monate alt – korrigiert 1 Monat alt. Er ist voll gestillt und ein ganz „normales“ Baby, das uns die Nächte zum Tag macht, aber uns als Familie komplett und unendlich glücklich. Wir können den Ärztinnen, Ärzten und Pflegekräften der Klinik nicht genug danken. Sie sind mit Gold nicht zu bezahlen. Sie haben das Wunder möglich gemacht. Nun können wir zu Hause ankommen, als ganz normale Familie.“

Wir wünschen Linus und seiner Familie von Herzen alles Gute.