Die Welt, in der wir leben, verändert sich ständig: manches in rasantem Tempo, anderes langsamer. Immer wieder werden wir als Menschen in unserer Fähigkeit herausgefordert, passende Antworten auf neue Gegebenheiten, neue Anforderungen und neue Fragen zu finden. Auf diese Weise überwinden wir Zustände von Verunsicherung und innerer Unruhe.

In besonderem Maße trifft dies für eine Zeit zu, in der Krisen und Kriege allgegenwärtig sind: Massive Polarisierung in Gesellschaften, Pandemie(n), Klimakrise und Kriege in unmittelbarer Nachbarschaft folgen in atemberaubend rascher Schrittfolge und wirken oft sehr ungünstig zusammen. Unsere Gesellschaft ist dabei in ihren Fähigkeiten gefordert, nach vorne zu blicken, Hoffnung zu generieren und gleichzeitig die Nöte von Schutzbefohlenen ernsthaft und nachhaltig im Blick zu behalten. Eine wahrhaft herausfordernde Aufgabe.

In diesem Kontext wachsen Kinder und Jugendliche heran und nehmen selbstverständlich teil am Leben mit all seinen Freuden und Tücken. Dabei stehen jedem Menschen zu unterschiedlichen Zeiten und Entwicklungsphasen unterschiedliche Fähigkeiten und Stärken zur Verfügung, um Herausforderungen möglichst gesund zu meistern. Gelingt die Bewältigung gut, zeigt sich eine starke Resilienz – die Fähigkeit, schwierige Situationen, Übergänge und unliebsame Gemütszustände zu bewältigen. Je größer die Anforderungen an unser Leben, desto mehr Resilienz ist erforderlich oder muss entwickelt werden.

Wichtige Fakten

Laut Erhebungen zur psychischen Belastung, ist ca. jeder fünfte Minderjährige psychisch belastet. Dabei unterscheiden sich die Alters- und Geschlechtergruppen erheblich und die soziale Umgebung spielt eine wesentliche Rolle. Wichtig ist zu wissen, dass nicht jeder Mensch mit einer psychischen Belastung automatisch psychisch erkranken wird. Dennoch führen manche Faktoren zur Entwicklung von psychischen Erkrankungen.

Unter den psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter sind die depressiven Erkrankungen die häufigsten: man geht davon aus, dass pro Jahr etwa fünf bis sechs Prozent der Kinder und Jugendlichen eine depressive Störung entwickeln. Dabei steigt die Wahrscheinlichkeit für eine depressive Erkrankung von der Kindheit bis ins Jugendalter deutlich an, sodass auf die gesamte Jugendzeit gerechnet jede*r fünfte Jugendliche eine depressive Störung aufweist. In der Kindheit ist das Geschlechterverhältnis noch ausgeglichen, während ab der Pubertät eine depressive Erkrankung doppelt so häufig bei Mädchen wie bei Jungen auftritt.

Die meisten depressiven Störungen im Kindes- und Jugendalter können im ambulanten Behandlungssetting sehr gut versorgt werden. Dennoch erschreckt vielleicht die Tatsache, dass die Anzahl Kinder und Jugendlicher, die mit einer Depression stationär behandelt werden müssen, deutlich ansteigt. So war die Zahl der Inanspruchnahme vor der Corona-Pandemie bereits deutlich gestiegen. Depressive Störungen waren demnach auch vor 2019 bereits der häufigste Grund für eine stationäre Behandlung im Kindesalter überhaupt. In der Corona-Pandemie stieg allerdings die Anzahl der stationären Behandlungen von Kindern und Jugendlichen nochmals um gut 20 %. Etwa die Hälfte aller stationären Akutaufnahmen in der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung sind durch depressive Störungen zu erklären.

Wir haben es also mit einem der wichtigsten Versorgungsthemen in der Kindermedizin zu tun, wenn wir uns mit der Depression im Kindes- und Jugendalter beschäftigen.

Warum werden Kinder depressiv?

Für die Depression gibt es nicht die eine Erklärung. Heutzutage geht die Medizin von einer multifaktoriellen Genese, also von mehreren zusammenspielenden Faktoren, aus. Genetische Ursachen, welche sich auf die Biologie des Gehirns auswirken können und eine gewisse Anfälligkeit für Depressivität aufzeigen, konnten bestätigt werden. Auch Veränderungen im Stresshormongleichgewicht können zu depressiven Zuständen beitragen.

Wesentlich und auch gut erforscht sind psychosoziale Faktoren. Schwerwiegende Lebensereignisse (z.B. Trennung der Eltern, Umzug, Tod geliebter Nahestehender), schulische Überforderung oder auch Unterforderung, verzerrte Kommunikation in der Familie, Ausgrenzung, Vernachlässigung, Mobbing, Missbrauchserfahrungen und Misshandlungen sind erhebliche Risikofaktoren. Sicher spielt auch die familiäre Belastung bei psychischer Erkrankung eine große Rolle, sodass es klug ist, bei Eltern mit psychischer Erkrankung gut darauf zu achten, dass Kinder und Jugendliche im Blick bleiben und bei Bedarf frühzeitig Hilfe erhalten.

Selten können auch körperliche Ursachen oder Mangelerscheinungen ein Grund für einen depressiven Zustand sein. So gehört zu jeder Untersuchung der Depression auch eine gründliche ärztliche Untersuchung dazu.

Wovon sprechen wir, wenn es um eine Depression geht?

Wenn ein Mensch an einer Depression erkrankt, dann hat er typischerweise eine Reihe von Symptomen, die von Ärzt*innen oder Psychotherapeut*innen erkannt werden können. Dabei ist typischerweise seine Stimmung gedrückt und er leidet unter dem Verlust von Interessen und Freude im Alltag. Dieses Leiden wird als „affektive Komponente“ beschrieben.

Verminderte Konzentration, vermindertes Selbstwertgefühl, Gefühle von Schuld, Hoffnungslosigkeit und wiederkehrende Gedanken an Tod oder Selbsttötung bis hin zu Suizidplänen und –handlungen, sind Ausdruck problematischer Gedanken und werden als „kognitive Komponente“ beschrieben. Häufig leiden Menschen mit depressiven Erkrankungen erheblich unter körperlichen Symptomen, die auch als „neurovegetative Komponente“ beschrieben werden. Dazu zählen Antriebsmangel, erhöhte Ermüdbarkeit, Schlafstörungen, Appetitstörungen oder auch Unruhe und Verlangsamung.

Diese breite Palette an Leidenspunkten zeigt auf, wie tief eine depressive Erkrankung in die Alltagsfunktionen eingreift und wie erschöpft Menschen mit depressiven Erkrankungen häufig sind vor allem, weil sie im Alltag so häufig gegen all diese Symptome anzukämpfen versuchen. Der Ausdruck der beschriebenen Symptombereiche einer Depression unterscheidet sich im Kindes- und Jugendalter zuweilen stark von Depressionszuständen im Erwachsenenalter. Aus der Erwachsenenperspektive ist es daher manchmal herausfordernd zu verstehen, dass sich ein depressives Zustandsbild in unterschiedlichem Alter und Entwicklungsstand eines Minderjährigen gänzlich anders darstellen kann, als bei Erwachsenen mit den typischen klinischen Symptomen. Es bedarf oft einer hohen und spezifischen kinder- und jugendpsychiatrischen/psychotherapeutischen Kenntnis, um das depressive Zustandsbild eines Kindes und Jugendlichen festzustellen.

Depressive Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen

Besonderheiten

Kleinkindalter

 

  • Unlust am Spiel, mangelnde  Phantasie
  • Eingeschränktes expressives Verhalten (z.B. ausdrucksloses Gesicht)
  • Leichte Irritierbarkeit
  • Schlechter Schlaf

 

Vorschulalter

 

  • Trauriger Gesichtsausdruck
  • Verminderte Mimik/ Gestik
  • Irritierbarkeit/ Stimmungslabilität
  • Mangelnde Fähigkeit Freude zu empfinden
  • Introvertiertes oder aggressives Verhalten
  • Vermindertes Interesse an motorischen Fertigkeiten
  • Ess- und Schlafstörungen

 

Grundschulalter

 

  • Traurige Stimmung (im Selbstbericht)
  • Müdigkeit
  • Wechselnde körperliche Schmerzen (Bauch, Kopf, Muskel)
  • Schulschwierigkeiten
  • Sozialer Rückzug (wenig Hobbies, wenig Freunde)
  • Langeweile
  • Gereiztheit, Wutanfälle, aggressives Verhalten
  • Angst vor dem Tod
  • Seltener, aber möglich: suizidale Gedanken

 

Pubertät/ Jugendalter

 

  • Vermindertes Selbstvertrauen
  • Apathie und Energielosigkeit
  • Ängste
  • Sozialer Rückzug
  • Konzentrationsschwierigkeiten und Leistungsstörungen
  • (Psycho-)somatische Symptome
  • Stimmungsschwankungen
  • Verschiebung Tag/ Nachtrhythmus
  • Substanzabusus
  • Suizidale Gedanken und Handlungen

Wann braucht man welche Hilfe?

Kinder und Jugendliche mit depressiven Erkrankungen werden vor allem in ambulanten Versorgungsstrukturen behandelt. Erfreulich ist es, wenn Symptome frühzeitig und richtig erkannt werden und adäquate therapeutische Hilfen eingeleitet werden können. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen und Kinder- und Jugendpsychiater*innen in der ambulanten Versorgung (also in Praxen) werden dann aktiv. Je früher und schneller die Hilfe greifen kann, desto besser ist dies für den weiteren Verlauf. Je länger der Zustand einer depressiven Erkrankung währt, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass auch weitere psychische Erkrankungen folgen oder sich verstärken können.

Leider erhalten Kinder und Jugendliche sehr häufig erst dann Hilfe, wenn die Symptome nicht mehr zu übersehen sind und nicht mehr als leichte Abweichung vom Normalverhalten gelten. Sehr häufig werden die Symptome lange Zeit als „Pubertätskrisen“ missdeutet. Nicht selten sind dann Akutsituationen bei Suizidalität die ersten Vorstellungssituationen (z.B. in einer Notfallsprechstunde) bei Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen/Kinder- und Jugendpsychiater*innen.

Wenn Symptome so beeinträchtigend sind, dass Kinder oder Jugendliche in ihrer Möglichkeit am Alltag teilzunehmen sehr eingeschränkt sind, erfolgt die Indikationsstellung für eine stationäre Behandlung in einer spezialisierten Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Auch wenn ein Kind oder ein*e Jugendliche*r sich nicht von quälenden Gedanken lösen kann oder bereits Handlungen geplant hat, sich zu töten, wird oft eine stationäre Behandlung in der Klinik unumgänglich. Dabei wird nicht nur aufgrund der bundesweit geringen Kapazität von stationären Behandlungsplätzen die Indikation für eine stationäre Behandlung sehr zurückhaltend gestellt. Auch die Sorge, dass eine stationäre Behandlung ein Kind oder eine*n Jugendliche*n aus seinen sozialen Bezügen herauslöst und damit zu Herausforderungen der späteren Wiedereingliederung führen kann, lässt alle Fachkolleg*innen sehr umsichtig sein mit der Indikationsstellung für eine stationäre Aufnahme.

Was hilft?

Depression im Kindes- und Jugendalter ist sehr gut behandelbar. Psychotherapie ist das Mittel der ersten Wahl. In einigen Fällen ist es sinnvoll, die Psychotherapie mit einer Medikation, einem Antidepressivum, zu ergänzen (s.u.).

Psychotherapie kann unterschiedlich intensiv sein und von ambulanten über tagesklinische bis vollstationäre Hilfen reichen. Dabei kommt es darauf an, wie schwerwiegend die Symptome sind und was benötigt wird.

Da die Ursachen und auch die Symptomausprägungen sehr individuell sind, ist eine gute Diagnostik nötig, um herauszufinden, welche Aspekte für eine Behandlung erforderlich sind. Ist eine ambulante Psychotherapie indiziert, findet sie gewöhnlich wöchentlich statt. Ob ein Medikament angezeigt ist, hängt von der Schwere der Symptomatik ab. Die Einschätzung dazu wird durch Kinder- und Jugendpsychiater*innen vorgenommen, die dann nach umfassender Aufklärung und Beratung der Eltern und der Kinder bzw. Jugendlichen eine Medikation verordnen können.

Wie hilft die Klinik?

Eine stationäre Behandlung kann, grob gesprochen, über zwei Wege eingeleitet werden: zum einen als akute Behandlung, zum anderen als geplante Behandlung. Schätzt ein Fachärzt*in für Kinder- und Jugendpsychiatrie eine akute Gefährdungssituation seitens des Kindes oder Jugendlichen ein, zum Beispiel aufgrund einer akuten Suizidalität, ist eine sofortige Aufnahme auf eine kinder- und jugendpsychiatrische Station erforderlich. Dies erfolgt zur Entlastung des Kindes oder des Jugendlichen, womit ihm vermittelt wird: „Wir passen auf Dich auf, Du bist hier sicher.“ Wenn ein Mensch das Gefühl verliert, für seine eigene Sicherheit sorgen oder dafür nicht mehr garantieren zu können, so ist dies ein höchst verzweifelter und furchterregender Zustand, der großes Leid auslöst. Der gebotene Schutzraum und die Kontrollübernahme durch das Klinikumfeld führen häufig rasch zu einer erheblichen Entlastung. Manchmal dauert es dann nur wenige Tage, bis wieder eine Entlassung aus dem Krankenhaus von einer Akutstation erfolgen kann. Je nachdem, welche weiteren therapeutischen Schritte erfolgen sollen, kann eine erneute, dann geplante stationäre Behandlung – meist mit etwas Abstand – notwendig sein. 

Bei einer geplanten stationären Behandlung bei Depression wird häufig schon im Vorfeld besprochen, welche genaueren Ziele die gewünschte stationäre Behandlung hat: Verbesserung der Stimmung, Verbesserung der sozialen Interaktion, Verbesserung der negativen selbstbezogenen Überzeugungen etc.. Häufig dauern diese Behandlungen mehrere Wochen und es wird gut ausgewählt, welche Form einer stationären Behandlung sinnvoll ist.

Egal welches Behandlungssetting gewählt wird: Immer ist ein multiprofessionelles Team an der Behandlung von Kindern und Jugendlichen beteiligt. Dieses Team wird von einem Fachärzt*in für Kinder- und Jugendpsychiatrie angeleitet und umfasst Ärzt*innen, Psycholog*innen, Psychotherapeut*innen, Erzieher*innen und Pflegekräfte, Sozialarbeiter*innen und sogenannte Fach- oder Spezialtherapeut*innen. Spezialtherapeut*innen haben eine spezielle Ausbildung erhalten, um mit einer besonderen Behandlungsform einen therapeutischen Zugang zum Patient*in zu schaffen, der nicht nur über das Sprechen oder das kindliche Spiel geht. Beispiele dafür sind Musiktherapie, Kunsttherapie, Sporttherapie, Tanz- und Bewegungstherapie, Gestalttherapie, Gartentherapie, Ergotherapie, Bibliotherapie, Erlebnispädagogik und Naturtherapie.

Heute gängige stationäre Behandlungsmethoden

  • Vollstationäre Behandlung: Kinder und Jugendliche werden gemeinsam in einer etwa Gleichaltrigengruppe in der Klinik behandelt. Sie schlafen in der Klinik (ohne Eltern).
  • Tagesklinische Behandlung: Kinder und Jugendliche werden gemeinsam in einer etwa Gleichaltrigengruppe behandelt. Sie kommen morgens in die Klinik und fahren am Nachmittag wieder nach Hause.
  • Stationsäquivalente Behandlung: Kinder und Jugendliche werden in ihrer eigenen häuslichen Umgebung durch ein aufsuchendes Behandlungsteam behandelt. Die Behandlung erfolgt an sieben Tagen der Woche mit täglich unterschiedlich langen Kontakten. Diese moderne Behandlungsform ist noch nicht flächendeckend vorhanden. Potsdam ist eine von wenigen deutschen Städten, in denen bereits durch eine Kinder- und Jugendpsychiatrie ein solches intensives Setting angeboten wird.

Die Behandlungsdauer richtet sich in allen Behandlungskonzepten nach den Symptomen und dauert in etwa sechs bis acht Wochen, manchmal auch länger.

Wie sieht eine stationäre kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung aus?

Eine moderne Kinder- und Jugendpsychiatrie ist sehr stark darauf ausgerichtet, die UN-Kinderrechtskonventionen so gut es geht in die Tat umzusetzen. Dabei wird darauf geachtet, kindliche und jugendliche Bedürfnisse nach Halt und Geborgenheit, Entwicklung und Selbstständigkeit, Ruhe und Aktivität und auch den Wunsch nach Beteiligung an Entscheidungsprozessen aufzunehmen.

Der Alltag in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist meist gut strukturiert. In den Vormittagsstunden erfolgt Klinikschulunterricht, nachmittags ein therapeutisches Angebot. Für gewöhnlich begleitet ein*e Ärzt*in oder ein*e Psycholog*in eine*n Patient*in und deren Familie von Anfang bis zum Ende der Behandlung und führt regelmäßige Gespräche mit den Patient*innen und dem sozialen Umfeld. Viele Aktivitäten geschehen in der Gruppe in Begleitung von Pädagog*innen oder Therapeut*innen, sodass in einem geschützten Rahmen soziale Interaktion geübt und gelernt werden kann.

Wie hilft Behandlung?

Kern einer Behandlung ist es, verstehen zu lernen, worunter ein Mensch leidet. Dies ist die Basis dafür, Symptome besser zu verstehen und sie Schritt für Schritt zu überwinden. Manchmal ist dies ein sehr schwieriger und schmerzhafter Prozess, der letztlich aber eine starke Auswirkung hat.

Während einer Behandlung wird vor allem bei Menschen mit einer Depression darauf geachtet, dass vermehrt positive Erlebnisse gemacht werden. Dies kann durch gelingende menschliche Begegnungen, durch die Bewältigung von schmerzlichen Zuständen und durch die Entwicklung von Fertigkeiten zur sozialen Kontaktgestaltung und Interaktion erfolgen. Auch Lernen, mit Gefühlen umzugehen, Verstehen der eigenen Gefühlswelt und das Aushalten von unangenehmen Gefühlen ist sehr hilfreich. Schließlich ist die Aktivierung von Selbstständigkeit und Selbstwirksamkeit ein wichtiger Schlüssel, der auch hilft übertrieben wirkende Selbstansprüche und Denkmuster zu überwinden.

Wesentlich bei jeder Behandlung ist der Einbezug des sozialen Umfelds. So ist es essenziell, Familienmitglieder und ggf. auch das schulische Umfeld mit einzubeziehen, um Veränderungen herbeizuführen und möglicherweise ungesunde Kommunikationsstrukturen und individuelle Versorgungsmängel zu beheben, die vorher aus verschiedenen Gründen vielleicht nicht beachtet werden konnten.

Die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie mit ihrem ambulanten, stationären Angebot und StäB-Angebot besteht im Januar 2024 seit zehn Jahren. Wir sind froh, in dieser Zeit einer Vielzahl von Kindern, Jugendlichen und deren Familien geholfen zu haben. Das Jubiläumsjahr nutzen wir für mehrere Veranstaltungen und Beiträge, um die Entstigmatisierung von psychischer Erkrankung im Kindes- und Jugendalter zu unterstützen. Wir möchten die Angst vor der Behandlung nehmen und Hoffnung spenden, dass mit Hilfe von fachlich guter Behandlung immer auch ein Weg gefunden werden kann – wie verschlungen dieser auch wirken mag.

Antidepressiva für Kinder und Jugendliche?

Auch Medikation kann hilfreich sein. Im Kindes- und Jugendalter werden bei depressiven Zuständen auch Antidepressiva verwendet. Allerdings stehen in der Regel für die Behandlung nicht so viele Medikamente zur Verfügung, wie bei der Behandlung von Erwachsenen. Hintergrund dieser Tatsache ist, dass nur sehr wenige Psychopharmaka offiziell auch für Kinder zugelassen sind. Für die Depression ist beispielsweise nur der Wirkstoff Fluoxetin, ein sogenannter selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer („SSRI“), für die Behandlung von Kindern ab acht Jahren zugelassen. Möchte man ein anderes Medikament wählen, so kann dies als individueller Heilversuch („off-label“) erfolgen und erfordert einige Hürden bei der Medikationsaufklärung und -verschreibung. Gerade die aktuellen Lieferengpässe, die auch Fluoxetin betreffen, stellen damit Ärzte und Familien vor große Herausforderungen. 

Eine Erkrankung, die uns schon immer begleitet

Depression im Erwachsenenalter

Die Melancholie, heute Depression genannt, begleitet den Menschen seit Beginn seiner Geschichte und wird auch weiterhin zum Menschsein gehören. Kunst und Literatur, Philosophie und Theologie bieten Interpretationen und Deutungen des subjektiven Erlebens an. Psychiatrie und Psychotherapie können Patient*innen umfassend behandeln, um den „dunklen Welten der Depression zu entfliehen“ und Wege zur „Bewältigung der seelischen Qual und Verzweiflung“ vermitteln. Den Angehörigen können Hilfen und Unterstützung angeboten werden, um der Not und dem Leid der Betroffenen wirksam zu begegnen und angemessen auf sich selbst zu achten.

Der griechische Philosoph Plato (427-347 v. Chr.), der Medizin als Wissenschaft der Gesundheit, Krankheit und Neutralität verstand, war vom Zusammenhang von Melancholie und Genialität überzeugt: „Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker?“ (Phaidros, um 360 v. Chr.).

Der Humanist und Renaissancephilosoph Marsilio Ficino (1433-1499) griff in seinem Werk „Buch des Lebens“ (1489) den antiken Gedanken der Melancholie genialer Menschen auf und versprach sich von Musik, Bildern, Bewegung, Gesprächen und dem Anblick glitzernden Wassers Erleichterung deprimierter Stimmungen.

Der Reformator Martin Luther (1483-1546), selbst schwermütig, formulierte diätetische Empfehlungen zur Behandlung der Schwermut. Er schlug dem Fürsten Joachim von Anhalt (1536-1586) Reiten, Jagen, fröhliche und angenehme Gesellschaft vor, „denn es ist doch ja die Einsamkeit und Schwermut eitel Gift und Tod, sonderlich einem jungen Menschen. So hat auch Gott geboten, dass man solle fröhlich vor ihm sein und will kein trauriges Opfer haben.“

Karl Philipp Moritz beschreibt 1794 in seinem Roman „Anton Reiser“ eindrucksvoll das subjektive Erleben „des Melancholikers“: „In solchen Zuständen konnte er dann tagelang sitzen, ohne Gedanken mit einer Feder auf dem Papier kritzeln und sich selbst über diese Verschwendung der Zeit verabscheuen, ohne doch Kraft genug zur besseren Anwendung derselben zu haben. Da kamen dann Stunden, ja ganze Tage, wo er in einem untätigen Hinbrüten auf dem Bette lag und ganz den Ausschweifungen seiner empörten Phantasie nachhing.“

„Ich hatte einen schwarzen Hund und sein Name war Depression“, so beschrieb Winston Churchill seine immer wiederkehrenden „dunklen Perioden“. Laut seiner Ehefrau Clementine hatte Winston Churchill in diesen Phasen kaum Energie, fühlte sich wie gelähmt, litt unter Konzentrationsmangel und Appetitlosigkeit. Seine wiederholten depressiven Episoden verstärkten seinen außergewöhnlichen politischen Pragmatismus. Damit hatte er entscheidenden Einfluss auf die politischen Geschehnisse des letzten Jahrhunderts.

Vladimir Horowitz, einer der bedeutendsten Klaviervirtuosen des 20. Jahrhunderts, musste sich vier Mal wegen schwerer Depressionen für längere Zeit aus dem Konzertbetrieb zurückziehen. Seine Frau Wanda begleitete ihn aufopferungsvoll während dieser „dunklen Phasen“.  Nach deren Überwindung faszinierte er wieder weltweit das Publikum mit seinen außergewöhnlichen Interpretationen insbesondere romantischer Klaviermusik u.a. mit seinem Paradestück, dem 3. Klavierkonzert von Rachmaninow.

Mehr Aufklärung erforderlich

Fünf Millionen Menschen in Deutschland leiden unter einer Depression. Für eine erfolgreiche Behandlung ist eine kompetente und umfangreiche Diagnostik erforderlich. Depressionen verbergen sich oft hinter körperlichen Beschwerden wie Brust-, Kopf-, Rücken- und Bauchschmerzen, Appetit- und Gewichtsveränderungen, Müdigkeit und Schlafstörungen. Menschen, die unter Depressionen leiden, haben ein hohes Risiko zur Selbsttötung. Depressionen sind die häufigste seelische Erkrankung im höheren Lebensalter. Depressionen sind nicht Ausdruck von Schwäche oder Versagen, sondern durch eine seelische Erkrankung bedingt. Viele Menschen sind wegen schwerer Depressionen langfristig nicht arbeitsfähig oder werden vorzeitig verrentet. Allerdings wird nach wie vor nur eine geringe Anzahl von Menschen, die unter schweren Depressionen leiden, fachgerecht behandelt. Insofern ist es wichtig, dass über Depressionen ausführlich informiert, umfangreich aufgeklärt und Wissen vermittelt wird. Die „Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention“ leistet dazu einen wichtigen Beitrag. 

Die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Ernst von Bergmann bietet Menschen, die unter Depressionen leiden, eine differenzierte Diagnostik und umfangreiche Behandlung auf Grundlage der wissenschaftlichen Leitlinien an. Angehörige werden regelhaft in den therapeutischen Prozess, der voll- oder teilstationär oder zu Hause aufsuchend oder ambulant erfolgt, einbezogen.

Denn wir wissen: „Depressionen können alle treffen, Depressionen können Menschen in allen Lebensphasen treffen, Depressionen haben viele Gesichter, Depressionen sind behandelbar“.

Prof. Dr. med. Frank Zimmermann-Viehoff

Experteninterview

Herr Professor Zimmermann-Viehoff, welcher Zusammenhang besteht zwischen depressiven Störungen und körperlichen Krankheiten?

Professor Zimmermann-Viehoff: Große Längsschnitt-Studien mit Teilnehmenden aus verschiedenen Ländern haben gezeigt, dass für Menschen, die in an einer Depression erkranken, das Risiko für die spätere Entwicklung verschiedener körperlicher Krankheiten steigt.
Das Spektrum reicht dabei von koronarer Herzkrankheit, Schlaganfall und Hypertonie über Diabetes mellitus und chronisch-obstruktive Lungenkrankheit bis hin zu chronischen Schmerzsyndromen unterschiedlicher Genese. Das Erkrankungsrisiko liegt für Menschen mit einer lebensgeschichtlichen Depression um 50-100% höher als bei Kontrollpersonen ohne Depression.

Wie erklärt die Forschung diesen Zusammenhang?

Professor Zimmermann-Viehoff: Ein großer Teil dieser Varianz lässt sich über depressionsbedingte Verhaltensveränderungen erklären. Im Mittel sind Menschen mit Depressionen häufiger Raucher, ernähren sich ungesünder, neigen vermehrt zu Übergewicht und Adipositas und bewegen sich weniger. Auch die medizinische Selbstfürsorge wie regelmäßige Arzttermine oder die zuverlässige Einnahme von Medikamenten ist häufiger beeinträchtigt als bei nicht Betroffenen.
Daneben gibt es auch soziale Faktoren, die sowohl hinsichtlich der Entwicklung psychischer wie auch körperlicher Krankheiten bedeutsam sind. So stellen zum Beispiel ein niedriger sozioökonomischer Status und ein geringer Bildungsgrad Risikofaktoren sowohl für Depressionen wie auch Übergewicht und Diabetes dar. Daher treten beispielsweise Depressionen und Diabetes weit häufiger gemeinsam auf, als es die Häufigkeiten für beide Erkrankungen für sich allein genommen erwarten lassen würden. Es gibt aber auch biologische Faktoren, die von Bedeutung sind.

Welche sind das?

Professor Zimmermann-Viehoff: Eine Depression sollte nicht als rein psychische Erkrankung betrachtet werden, sondern löst auch eine anhaltende Stressreaktion im Körper aus. So ist z.B. die Aktivität des Nervus Vagus bei Menschen mit Depressionen im Mittel vermindert. Dieser Gehirnnerv ist Teil des parasympathischen Teils des autonomen Nervensystems, welches für Erholung und Verdauung zuständig ist. Eine reduzierte vagale Aktivität wiederum führt z.B. am Herz dazu, dass das Risiko für Herzrhythmusstörungen steigt. Auch andere biologische Systeme wie das Hormonsystem (hier insbesondere die Regulation des „Stresshormons“ Kortisol) oder das Immunsystem sind häufig in Richtung einer chronischen Stressreaktion verändert.

Was bedeuten diese Erkenntnisse für die Therapie von Depressionen?

Professor Zimmermann-Viehoff: Eine Depression sollte möglichst frühzeitig erkannt und therapiert werden. Dabei sollte immer eine vollständige Remission der depressiven Symptome angestrebt werden, da ansonsten ein erhöhtes Rückfallrisiko besteht. Bei bereits bestehenden körperlichen Krankheiten ist in vielen Fällen primär eine Psychotherapie gegenüber medikamentöser Therapie zu bevorzugen. So wissen wir z.B., dass Standard-Antidepressiva wie selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) bei bestehender Herzinsuffizienz kaum wirksam sind, jedoch unerwünschte Wirkungen wie Begünstigung von Herzrhythmusstörungen oder ein erhöhtes Blutungsrisiko haben können. Bei schweren depressiven Episoden ist in den meisten Fällen jedoch eine Kombination aus Psychotherapie und pharmakologischer Therapie indiziert. Es versteht sich, dass dabei auf ein möglichst günstiges Nebenwirkungsprofil im Hinblick auf bereits existierende Krankheiten oder Krankheitsdispositionen wie auch auf Interaktionen mit vorhandenen Medikamenten gut geachtet werden sollte.
Generell sollte auf eine adäquate Rückfallprophylaxe durch Psychotherapie und/oder Antidepressiva geachtet werden. So sollte nach den aktuellen Leitlinien eine antidepressive Behandlung bei einer ersten depressiven Episode über mindestens 6-12 Monate nach Remission in gleicher Dosierung fortgeführt werden. Bei Patientinnen mit 2-3 oder mehr depressiven Episoden in der jüngeren Vergangenheit mit funktioneller Beeinträchtigung sind es mindestens 2 Jahre.
Daneben ist es wichtig, den Lebensstil der Patient*innen mit im Blick zu haben und gesundheitsförderliches Verhalten zu stärken. Dies senkt nicht nur das Risiko für körperliche Krankheiten, sondern hat unter Umständen auch einen direkten antidepressiven Effekt. So konnten Meta-Studien zeigen, dass ein regelmäßiges körperliches Training auf depressive Symptome vergleichbar gut wirkt wie eine Behandlung mit einem Antidepressivum.

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